Helm Stierlin

Helm Stierlin

Statt eines Nachrufs

Ein Verbundenheits-, Dankes- und Zukunftsruf für Helm Stierlin (1926–2021) von Dr. med. Gunther Schmidt und Mechthild Reinhard

Helm Stierlin, Prof. Dr. med. Dr. phil., ist am 9. September 2021 in Heidelberg im Alter von 95 Jahren verstorben. Dies erfüllt uns mit tiefer Traurigkeit.

Für die sysTelios Klinik, für uns als "Gründer-Menschen" und für viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war und ist Helm Stierlin der Mensch, dessen Einflüsse uns in unserer Arbeit und in der Sinnausrichtung unseres Lebens über viele Jahre sehr intensiv geprägt haben.

Die theoretischen und praktischen Ansätze, welche die zentrale Basis sowohl der psychotherapeutischen Arbeit als auch der Gestaltung unseres Organisationssystems und unserer Organisationskultur in der sysTelios Klinik sind, wären ohne seine Konzepte und ohne seine charismatische Ausstrahlung so nicht denkbar.

Wir, Gunther Schmidt und Mechthild Reinhard als Gründer und Gründerin der sysTelios Klinik, hatten in unterschiedlicher Art und Weise eine tiefe Verbindung zum Leben und Wirken von Helm Stierlin. Darüber sprechen wir in diesem Text.

Dr. med. Gunther Schmidt zu Helm Stierlin

Ich möchte einige Gedanken zu Helm aus der Fülle der gemeinsamen Erfahrungen zusammentragen. Ich hatte die Ehre und das große Glück, schon von Anbeginn der Heidelberger Tätigkeit von Helm zu lernen und über viele Jahre mit ihm in seinem Team zusammenarbeiten zu dürfen.

Mit ihm ist ein Mensch von uns gegangen, dessen Wirken für die Entwicklung der Familientherapie und der daraus hervorgegangenen systemischen Konzepte im deutschsprachigen Raum sicher den größten Einfluss von allen Mitwirkenden in diesem Feld hatte, der aber auch international von zentraler Bedeutung war.

Helm hatte ab 1945 in Heidelberg Medizin und Philosophie studiert und in beiden Bereichen promoviert, in Philosophie bei Karl Jaspers (Ko-Referent Hans-Georg Gadamer), in Medizin bei Kurt Kolle in München. Danach erwarb er sich in den Vereinigten Staaten 17 Jahre lang (mit einem zweijährigen Intervall in der Schweiz) umfassende Kompetenzen im Feld der Psychiatrie und Psychotherapie, immer in Kooperation mit international führenden Experten, unter anderem an der berühmten Chestnut-Lodge-Klinik sowie am National Institute of Mental Health. Dabei war ein zentrales Feld seiner Interessen die Arbeit mit Menschen, die als psychotisch diagnostiziert waren, und mit deren Familien.

Nach Deutschland zurückgekehrt leitete er von 1974 bis 1991 als Professor die speziell für ihn geschaffene Abteilung für "Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie" an der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg. Dabei verband er in seiner Person vermeintliche Gegensätze, nutzte sie und hob sie in sehr konstruktiver Weise auf.

So war er sowohl renommierter Psychoanalytiker (und als solcher auch Mitglied in den großen psychoanalytischen Verbänden) und veröffentlichte in diesem Bereich viele international anerkannte Publikationen. Gleichzeitig wurden seine Werke zur Mehrgenerationen-Familientherapie und später zur systemischen Therapie ebenso wegweisend. Seine Konzepte zur "bezogenen Individuation", seine Ideen zu Delegationsprozessen sowie zur Bindungs-, Ausstoßungs- und Mehrgenerationen-Vermächtnis-Dynamik in Familien fanden weltweit Anerkennung. Auch für uns in der sysTelios Klinik sind sie bis heute von tragender Bedeutung für unsere psychotherapeutische Arbeit.

Es ist für mich nur zum Staunen: Insgesamt schrieb Helm mehr als ein Dutzend Bücher und eine enorme Zahl an Fachartikeln, die teilweise in mehr als 12 Sprachen übersetzt wurden. Seine Veröffentlichungen bezogen sich nicht nur auf einschlägige Fachthemen. Geleitet von einer unbändigen Neugier, Wissbegier und Lernfreude führten ihn seine Interessen weit über den Horizont der üblichen Fachbildungen hinaus.

Als promovierter Philosoph war er ganz besonders beeinflusst von den Ideen der Hegelschen Dialektik, aber auch zum Beispiel von Nietzsche. So verwundert es nicht, dass er wichtige Beiträge zu philosophischen Themen veröffentlichte. Und immer ging es ihm um eine Versöhnung von als Gegensätze erscheinenden Phänomenen und deren konstruktive Integration.

Darüber hinaus bewegten ihn politische Themen. Aus den Erfahrungen, die er als junger Mensch in der Nazizeit machen musste, entwickelte er seine lebenslange, entschieden und sehr engagiert ausgedrückte demokratische Haltung mit berührend aufrichtiger Toleranz für Andersdenkende, auch für herausfordernd fremde Perspektiven und Kulturen. So sind seine Arbeiten zur Demokratisierung der Psychotherapie zu verstehen, ebenso sein Ringen um ein Verständnis der Psycho- und Familiendynamik von Hitler, welches sich in einem international sehr beachteten Buch niederschlug.

Helms kaum fassbare Vielseitigkeit zeigte sich sogar darin, dass er zum Beispiel das Theaterstück "Familiendialog" schrieb, welches von dem international bekannten Choreographen Johann Kresnik als Tanztheater an mehreren Bühnen mit großer Resonanz aufgeführt wurde. Sein in wunderbar witziger Versform gestaltetes Buch über Paardynamik erfreut bis heute nicht nur sehr viele Leserinnen und Leser, es fand ebenso seinen Weg auf die Bühne und wurde in Heidelberg vor einem begeisterten Publikum aufgeführt. Auch Beiträge zu Hölderlin steuerte er mühelos auf Kongressen bei. All diese so vielfältigen Aktivitäten machten die Begegnungen mit ihm zu reichhaltigen Geschenken.

Eines wirkt bis heute ganz besonders in mir nach: Helms Haltung, die sich in seinem Wirken als Chef beziehungsweise Leiter der eigenen Universitätsabteilung im Umgang mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zeigte (darunter Ingeborg Rücker-Embden-Jonasch, Michael Wirsching, Gunthard Weber und Fritz B. Simon), zu denen auch ich gehörte. In unserer "Heidelberger Gruppe" lebte Helm kongruent und sehr wirksam vor, worum sich heute viele Organisationen mit agilen Konzepten, Holocracy oder lateralem Führen (oft noch sehr holprig) bemühen. Er führte mit überzeugendem, nicht irritierbarem Vertrauen in seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Jede und jeder Beteiligte konnte autonom sehr viel Spielraum für eigene Beiträge und Entwicklungen nutzen.

Diesen Vertrauensvorschuss, den niemand von anderen Arbeitsstellen gewohnt war, dankten wir ihm mit besonderem Engagement, mit viel mehr, als es unsere Pflicht gewesen wäre. Helm praktizierte in meisterhafter Weise ein Führungsverhalten ohne Weisung, aber durch intensive wechselseitige Loyalität auf der Basis einer gemeinsam entwickelten, kraftvoll tragenden Sinnorientierung.

Er suchte sich gezielt Menschen für sein Team aus, die Kompetenzen aufwiesen, die er bei sich weniger sah, und die quasi "versprachen", dass sie seine eigenen Konzepte kritisch hinterfragten und weiterentwickelten, ja sogar transformierten.

Er fokussierte konsequent auf die wertvollen Potenziale, die seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu kreativen, kompetenten Gestalterinnen und Gestaltern machen konnten.

Jedem Menschen, der ihm begegnete, vermittelte er achtungsvoll, dass er ihn in seinem Wert und seiner zu würdigenden Einzigartigkeit sah und sich mit ihm auf gleicher Höhe erlebte und verhielt. Waren Ergebnisse der Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einmal korrekturbedürftig, geschah dies nie mit Kritik, sondern immer mit wertschätzenden Einladungen zu anderen Perspektiven.

Ich habe nie wieder, weder als Mitarbeiter noch in vielen Kooperationen mit Kliniken und anderen Organisationen, einen Vorgesetzten erlebt mit so viel Bereitschaft, sich und seine in der gesamten Fachwelt berühmten Konzepte in Frage zu stellen und zu transzendieren.

So wurde auch die eigenständige Entwicklung meines hypnosystemischen Ansatzes von ihm mit tatkräftiger Ermutigung und immer wieder mit klug-kritischem Feedback unterstützt. Dafür bin ich Helm zutiefst dankbar.

Mechthild Reinhard zu Helm Stierlin

Die Gedanken von mir können nur eine Ergänzung sein, da ich Helm längst nicht so lange erleben durfte wie Gunther Schmidt. Dennoch hat der Kontakt mit Helm mich in meinem Leben ebenso entscheidend geprägt. Und er hat dazu beigetragen, den Mut aufzubringen, unser Projekt "sysTelios" als Mitgründerin zu realisieren.

So haben wir versucht, alle beschriebenen Aspekte für eine gelingende Kultur würdigender Zusammenarbeit in der sysTelios Klinik als Interaktionsbasis zu übernehmen und bewusst weiter zu entfalten. Helm war besonders daran interessiert, wie wir das Konzept der "bezogenen Individuation" in unserem Organisationsalltag leben würden.

Zusammen mit seiner Frau Satu begleitete er kontinuierlich die Aufbaujahre, sowohl zwischenmenschlich als auch professionell. Mit seiner unaufdringlichen Altersweisheit wirkte er ermutigend in unser Team hinein, besonders auf die Teammitglieder der jüngeren Generation. Auch Klientinnen und Klienten konnten ihn in vielfältigen Abendrunden genießen und waren nicht selten regelrecht ergriffen von seiner menschlichen Bescheidenheit und fachlichen Demut.

Gunther Schmidt und ich sind uns darin einig: Oft wird in unserer Gesellschaft das Werk eines bekannten Mannes als seine alleinige Leistung dargestellt und dann wird noch quasi nebenbei erwähnt, dass er auch eine ihn irgendwie nett unterstützende Frau an seiner Seite hatte. Dies könnte vielleicht auch aus den bisherigen Zeilen in missverständlicher Weise herausgelesen werden.

Doch das so vielfältige, kreative und fundierte Werk von Helm ist aus unserer Sicht nicht denkbar ohne das unschätzbar wertvolle Wirken seiner Frau Satu, die als promovierte Psychologin bis heute, auch international, wunderbare Seminare im Bereich der Familientherapie gibt. Sie hat ihn mit ihren eigenen kreativen Ideen vielfach angeregt und herausgefordert. Und sie, eine Meisterin der sozialen Netzwerkgestaltung, war es auch, die ihm sehr oft die Türen für wichtige Kontakte und deren kontinuierliche Pflege erst öffnete.

Die in Helms Arbeiten so differenziert beschriebenen Werte wie Loyalität, tragenden Bindungsprozessen bei gleichzeitig gelingender Individuation, wurden auch in seiner Familie in beeindruckender Weise kongruent gelebt. Es hat uns immer wieder sehr berührt und beeindruckt, wie gerade auch in den letzten Jahren seines Lebens die beiden Töchter Larissa und Saskia zusammen mit Satu ihn, der in dieser Zeit immer mehr auch pflegebedürftig geworden war, tatkräftig und in liebevoller Weise umsorgten und ihm ein achtungsvoll-beschütztes Leben in Würde ermöglichten.

Ich fühle mich Helm besonders verbunden, weil wir am gleichen Tag Geburtstag hatten und in den vergangenen zehn Jahren unsere Geburtstage zusammen feierten. Auch in diesem Jahr, selbst unter Corona-Bedingungen.

Zehn Tage, bevor er friedlich zu Hause in seinem Bett endgültig einschlief, wirkte er auf mich sehr zart, sehr wach, hatte strahlende Augen. Er konnte nicht mehr viel sprechen, streichelte jedoch Satu und mir ständig liebevoll die Hände und ließ es auch bei sich zu.

Ja, Helm hat uns jetzt verlassen und dies ist sehr schmerzlich. Er lebte ein Leben aus und in erstaunlicher Fülle und, je älter er wurde, aus und in immer größer werdender Dankbarkeit. Mit 90 Jahren hörte ich ihn sagen: "Ich hätte nie gedacht, dass ich in den letzten Jahren meines Lebens noch so viel lernen würde."

Sein Geist, seine vielen kreativen Ideen und Werke sowie seine aufrichtige Art, Menschen mit großer Achtung, mit mitmenschlicher Würdigung auf Augenhöhe zu begegnen und seine ermutigende Haltung, mit Staunen und Bewunderung offen für die Welt, für die Einzigartigkeit von Menschen und für immer neues Lernen zu bleiben, werden als Orientierung gebendes Modell für uns alle weiterwirken. Wir verabschieden uns von Helm und danken ihm von Herzen für sein Mit-uns-unterwegs-Sein.

Dr. med. Gunther Schmidt, Mechthild Reinhard und das sysTelios Team